Montag, 5. Oktober 2009

Bildungsbürgerliches Dünkel

Eine Gesellschaft hat Regeln. Z.B. Cappuccino trinke man nur vormittags, zum Drehen der Spaghetti nutze man bitte keinen Löffel und zwischen den Sätzen eines Stücks klatscht man nicht!

Die Konzerte der von Ralph Ziegler geleiteten Neuen Philharmonie Frankfurt im Offenbacher Capitol sind durchaus eindrucksvoll. Und sicher auch ein Treffpunkt des "Bildungsbürgertums" der Stadt.

Erst seit wenigen Jahren ist Offenbach Standort der Philharmomie und damit Spielort für klassische Konzerte - das Capitol selbst wurde in der näheren Vergangenheit als Muscial-Haus und Disco genutzt (s. zur Geschichte des Capitols auch Mark Medlocks Auftritt im Capitol). Die Stadtpolitik hatte über ein Jahrzehnt negiert, dass es in einer Stadt wie Offenbach auch eine Art Kristallisationspunkt für Hochkultur braucht.

Auch einer jahrzentelangen Konzertfreiheit mag es geschuldet sein, dass nicht jeder Konzertbesucher bei den gestrigen "Herbst-Farben" das ungeschriebene Gesetz kannte, nachdem zwischen einzelnen Sätzen eines Stücks zu klatschen, sich nicht ziemt, um das Gesamtkunstwerk und die Künstler nicht zu stören. Jedenfalls war zunächst deutlicher Applaus in den Pausen inmitten der Stücke vernehmbar.

In meiner Umgebung konnten sich einige ob dieses Lapsus gar nicht einkriegen und schimpften wie Rohrspätzchen über so viel Unbildung. Meine Sitznachbarin, eine profilierte, sehr nette und zuvorkommende Dame der Offenbacher Stadtgesellschaft, fasste sich ostentativ, sogar gleich mehrfach an den Kopf. Ich war versucht zu fragen, ob sie das mit den Spaghetti und dem Cappucio auch so in Rage bringt.

Dieser manieriert vorgetragene bildungsbürgerliche Dünkel störte übrigens die Umgebung und das Gesamtkunstwerk weit mehr als der richtige Respekt zum falschen Zeitpunkt, den eine Minderheit den Künstlern entgegenbrachte.


PS: Die Regel mit dem Klatschen wird durchaus von profilierten Künstlern in Frage gestellt! Klatschen zwischen den Sätzen war übrigens zu Beethovens Zeiten sogar üblich - wie eine kleine Netzrecherche ergab. Als immer Vorsicht bei allzuviel Political Correctness. Auch im Konzert.

1 Kommentar:

  1. Ein sehr erfrischender Artikel *lach. Am 6.12.209 besuchte ich das Weihnachtskonzert im Capitol. Mein Gedanke war es, als ich mir das zahlreich erschienene Publikum ansah, fürwahr, hier findet ein Treffen des Offenbacher Bildungsbürgertum statt, das sich deutscher, weihnachtlicher Tradition nahe fühlt.
    Die Altersstruktur schätzte ich auf 75 % ab 50 Jahren aufwärts. den Anteil junger Menschen schätzte ich auf magere 5%. Abseits des kommerziellen Weihnachtsrummels dem man nicht ausweichen kann, versammelte sich im Capitol vielleicht der letzte Rest, der Weihnachten abseits des Kommerzes noch persönliche Erinnerung und Empfinden einer vergangenen Zeit entgegenbringt.
    Ich Stillen setzte ich mich mit dem auseinander, was mir meine Mutter beigebracht hatte, nämlich mit dem Applaus zu warten, bis erkennbar wird, bis die einzelnen Stücke vom Orchester und Chor als Gesamtstück vorgetragen sind. Ich spürte den Widerspruch in mir und dachte, pfeif drauf und klatsche einfach nach jedem Stück, das mag die Künstler im weiteren Verlauf ihres Auftrittes, zu neuen Höhen beflügeln. Ich konnte mich nicht entscheiden, zwischen dem wonach mir war und dem was ich beigebracht bekommen hatte. Na ja, wahr es Mangel an Zivilcourage oder einfach der bequeme Gedanke, den anschließenden Bemerkungen aus dem Weg zu gehen, ob ich gedacht hätte, auf einer Zirkusveranstaltung zu sein, fand ich für mich die Ruhe, einfach mich in aller Stille der Musik hinzugeben, als höre ich sie auf einer CD, denn dabei klatsche ich nur selten. Wie auch immer, auch mich beschäftigte der Gedanke, über das Applausverhalten des Bildungsbürgertums und mein eigenes.
    Ohne Zweifel, meine ich, haben sich die Künstler bei gutem Vortrag, den Applaus nach jedem Satz verdient, wobei ich Schriftsteller davon ausnehme. Die Initiatoren der Frankfurter Philharmonie in Offenbach könnten beim nächsten Weihnachtskonzert Hilfestellung geben und darauf aufmerksam machen, wie lebendig und fröhlich es bei den britischen Proms zugeht. Weihnachten, und ich denke auch beim Bildungsbürgertum sollte es bekannt sein, hat etwas mit Fröhlichkeit zu tun.

    Mit freundlichen Grüßen
    Uwe Kampmann

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